2019
Erzählst du uns bitte ein bisschen darüber, wie On Earth entstanden ist?
Steve: On Earth sollte eine Geschichte in einer Geschichte erzählen, eine andere Realität in der Realität zeigen. Im Grunde soll es eine Reise darstellen, die an die Grenzen der Fantasie stößt. Die Bilder, die ich als meine Farbpalette betrachte, habe ich von einem der schönsten Seen Berlins. Ein fast magischer Ort. Am späten Abend, fast wie hypnotisiert, machte ich hunderte Bilder. Ich benutze meine Kamera, wie ein Maler seinen Pinsel benutzt. Während ich die Bilder auf dem Computer zusammenstellte, hatte ich das Gefühl an einem historischen Bild zu arbeiten - einem Werk, das in verschiedene Epochen springt.
Auch wenn sich meine Arbeit wie Malerei anfühlt, bleibt der Ursprung aber immer die Fotografie.
Du hast gesagt, dass dieses Werk „biblische, mythologische und zeitgenössische Elemente" besitzt. Ist das einfach so passiert oder war genau das dein Ziel?
Steve: Ich würde sagen, dass es eine Mischung aus beidem war, aber ich habe mich oft von den Fotos und ihren komplizierten Details leiten lassen. Wie bei jeder Arbeit beginne ich allerdings mit einer leeren Seite. Es ist ein bisschen, als wenn man eine Geschichte schreibt. Beim guten, kreativen Schreiben entwickeln die Charaktere manchmal ein Eigenleben und diktieren dem Autor, wo die Reise hingeht. Vielleicht zieht dieses Bild seine Kraft aus der Natur des Lebens in Berlin, das oft als mystisch, magisch und voller Energie erlebt wird.
Kurz gesagt, während ich das Bild zusammenstellte, ließ ich mich einfach von den Formen tragen. Je weniger ich nachdachte, desto harmonischer wurde das Bild. Ich habe diesen einzigartigen See schon oft besucht, und die Art und Weise, wie die Menschen dort Erholung finden und sich selbst in der Szene positionieren... einfach faszinierend. Das Bild, welches sich mir dort bietet, erinnerte mich an viele Gemälde aus der Kunstgeschichte. Ich fühlte mich an „Das Frühstück im Grünen“ von Manet erinnert. Die Nacktheit, die Musen und der allgegenwärtige Traumeffekt verschmelzen magisch miteinander, und versetzen den Betrachter in parallele Realitäten.
Ein Großteil deiner Arbeit konzentriert sich auf die Konstruktion der visuellen Geschichte. Da uns die Bilder des Klimawandels ständig bombardieren: welche Rolle spielt On Earth innerhalb unserer zeitgenössischen visuellen Landschaft?
Steve: Die Geschichte, wie wir sie kennen, ist ein Konstrukt von Bildern. Und da sich unser Verständnis von Bildern ständig verändert, verändert sich auch unser Verständnis von Geschichte und Vergangenheit. Eine Collage von Bildern ist jedoch wie das Lösen eines visuellen Rätsels, das Sprünge in die Zukunft ermöglicht. Bilder sind Fahrzeuge, die durch die Zeit reisen oder sich außerhalb der Zeit befinden.
In meiner Arbeit stelle ich mir die Landschaft neu vor, arbeite daran, als würde ich ein visuelles Rätsel entschlüsseln. Es ist, als hätte man mir Teile eines zerklüfteten Lands gegeben und mich gebeten, eine Lösung zu finden, sie zu „reparieren". Unsere Erde braucht sofortige chirurgische Eingriffe. Wir haben die Macht, das Land zusammenzufügen, die Ufer und Berge zu reparieren und das Gleichgewicht, in dem jedes Teilstück zählt, wiederherzustellen. Nur dann wird echte Schönheit entstehen; eine Schönheit, die sich wie ein verträumter Zustand anfühlt, in dem alles möglich ist. Aber zunächst sollten wir gemeinsam beginnen, unsere Vorstellungskraft um begrenzende Normen zu bereinigen. Dies ist die Grundlage für jedes zukünftige fruchtbare Land.
Wir leben im Paradies, und die Frage ist: Übersehen wir das nicht einfach nur?
Deine Bemerkung darüber, On Earth sei ein Beispiel für „Menschen lassen einander sein wie sie sind" ist sehr interessant. Fühlst du als Fotograf eine Spannung, die Welt so zu dokumentieren, wie sie ist, und nicht den künstlerischen Impuls, die "Realität" für dein eigenes Kunstwerk zu nutzen?
Steve: Ich sehe mich als Künstler, der sich mit dem Medium Fotografie beschäftigt. Und was ist Realität? Es gibt nur Wahrnehmungen davon, und obwohl es den Anschein hat, dass wir uns alle in der gleichen Realität befinden, tun wir es im Wesentlichen nicht. Ich nutze die Realität nicht aus. Ich beobachte sie. In den 90er Jahren, während der Arbeit an meinem ersten großen Kunstprojekt, Search, hörte ich ein Zitat von Robert Bly, das mich immer noch inspiriert:
„Whoever wants to see the invisible must penetrate more deeply into the visible." (zu deutsch: Wer das Unsichtbare sehen will, muss tiefer ins Sichtbare eindringen.)
Große Schönheit kann entstehen, wenn die dünne Schicht eines Kunstwerks, die Realität und Vorstellungskraft voneinander trennt, verschwindet und beides wie in einem Tagtraum verschmelzen lässt.
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